Genesis Kapitel eins    nicht Schöpfungsmythos, sondern therapeutisches Handbuch

12.10.2007

Zusammenfassung am Ende

 

 

Der große Hymnus, mit dem die Bibel beginnt, wird gewöhnlich als ein „Schöpfungsmythos“ verstanden – und damit von vielen eingereiht in eine lange Reihe von als „primitiv“ eingestuften antiken Vorstellungen über die Entstehung der Welt. Dadurch aber entgeht dem Leser genau das, was mit diesem Hymnus intendiert ist und was ihm bis heute einen eminent praktischen Wert verleiht.

Dabei muss man nicht einmal besonders genau hinschauen, um schon in der ersten Zeile etwas zu entdecken, was der üblichen Interpretation zutiefst widerspricht – und bei etwas genauerem Hinsehen wird klar, dass die Vorstellung der alten Hebräer, die hier präsentiert wird, keineswegs primitiv ist. Bereits in Vers eins zeigt sich nämlich, dass die Ebene der äußeren Realität, die bei der Interpretation als Schöpfungsbericht gewöhnlich als die Alleinige gesehen wird, gar nicht die ist, um die es eigentlich geht, sondern dass sie nur das symbolische Werkzeug liefert, mithilfe dessen die Leser oder Hörer des Texts die Abläufe ihrer eigenen inneren Wirklichkeit verstehen und beherrschen lernen können. In diesem Verständnis kann Genesis eins auch für Menschen von heute noch die Funktion erfüllen, die ursprünglich intendiert war. – Es ist in etwa die gleiche Funktion, die auch der berühmte mittelalterliche jüdische Gelehrte Moses Maimonides in seinem „Ratgeber für die Ratlosen“ beabsichtigt hat – nämlich die eines therapeutischen Handbuchs.

 

 

Vor Schritt eins, die Ausgangssituation: Alles ist schon da, aber die Lage ist aussichtslos – was ist zu tun?

 

„Am Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde“, heißt es in V 1 – lange vor „Tag eins“. Bevor die angebliche Schöpfungsgeschichte beginnt, war also alles schon da. Offenbar geht es in dem Hymnus gar nicht um die Erschaffung der Welt, sondern um etwas ganz anderes.

Wir könnten natürlich versuchen, die Idee zu retten, dass es sich um einen Schöpfungsbericht handelt, und diesen ersten Satz als eine Art Überschrift zu dem Hymnus zu betrachten – aber dann dürfte in V 2a+b nicht fortgesetzt werden: „Die Erde aber war wüst und chaotisch. Finsternis über dem Abgrund“, denn damit werden Himmel und Erde schon näher beschrieben, die nach der üblichen Interpretation an diesem Punkt noch gar nicht existieren. Was beabsichtigt der Autor damit?

Obwohl in dem folgenden Hauptteil des Hymnus etwas anderes im Vordergrund steht, nämlich etwas, das aussieht wie ein nicht ganz logischer, eben „primitiver“, Schöpfungsbericht, teilen Vers 2a und b etwas ganz anderes mit, nämlich den Grund dafür, warum diese Geschichte jetzt erzählt wird. An dieser Stelle zeigt sich, dass der ganze Hymnus nicht eine objektive Aussage über den Anfang der Welt machen will, sondern dass er für Menschen gedacht ist, die mit ihrer Weisheit am Ende sind, die keinen Ausweg mehr sehen. Wenn wir diese Aussageabsicht in Betracht ziehen, werden die seltsamen Unstimmigkeiten des Folgenden verständlich, denn der ganze Hymnus zeigt sich dann als eine traumhaft symbolische Antwort auf den verzweifelten Hilferuf eines Menschen, der sich in einer ausweglosen Situation findet, der sich fühlt wie vor einem Abgrund, in den er zu stürzen droht, umgeben von Finsternis, ohne jegliche Orientierung.

 

In dieser trostlosen Situation wird dem Verzweifelten von einem, der es bereits weiß, etwas Entscheidendes über die Natur der Welt gesagt, und das wirkt jetzt unendlich tröstend: V 2c: [Du brauchst keine Angst haben, denn] „der Geist Gottes ist [schon] da, schwingend über den Wassern“.

In diesem Satz liegt der Schlüssel zu unserer ganzen Geschichte, denn der göttliche Geist, der schon über dem abgründigen Chaos schwingt, hat doch von Anfang an alles hervorgebracht. Die Probleme, die wir haben, sind verschwindend im Vergleich zu der gewaltigen Schöpfung. Wenn das alles sich so wunderbar entwickeln konnte, dass am Ende intelligente Wesen, wie wir, daraus hervorgehen konnten, dann wird der schöpferische Geist auch für unser Problem eine Lösung finden.

Und noch etwas ist in dem Satz enthalten, etwas, das dann in Vers 26, in dem es um das Wesen des Menschen geht, beinahe schon überflüssigerweise wiederholt wird, nämlich dass der schöpferische Geist zu jeder Zeit in allem gegenwärtig ist und dass die hier beschriebene Situation, Finsternis, abgründiges Chaos und schöpferische Kraft, einfach die archetypische Situation eines jeglichen Ur-Sprungs ist, also die Ursprungssituation der ganzen Schöpfung. – Insofern ist unser Hymnus tatsächlich ein Schöpfungsbericht – aber nicht in dem Sinn, wie das gewöhnlich angenommen wird, nicht als eine objektive Aussage über die Abfolge des schöpferischen Wirkens Gottes in der Welt, sondern als eine Anleitung zur existentiell-persönlichen Erfahrung der schöpferischen Kraft.

 

Zusammenfassend könnten wir in heutiger Sprache formulieren: Am Anfang ist alles schon da. Aber der Mensch kann nicht einfach, wie bisher, fraglos weiterleben, denn er befindet sich in einer ausweglosen Lage, die seine Existenz bedroht. Er steht vor einem Abgrund, umgeben von Finsternis.

Oft haben Menschen niemand, der ihnen in dieser Lage etwas Tröstliches sagen kann. Deshalb verzweifeln viele, geben die Hoffnung auf und werden von dem sie bedrohenden Chaos tatsächlich hinweggerafft.

Einige Menschen aber haben das Geheimnis der Schöpfung bereits entdeckt. Es ist ihnen „geoffenbart“ worden. – Nicht dass diese Offenbarung irgendjemand verweigert werden würde, aber viele sind so voll mit Vorstellungen, in denen es für ihre Situation keine Lösung gibt, dass sie in sich keinen Raum mehr haben für die Offenbarung der Lösung. Dadurch aber, dass einige das Geheimnis der Schöpfung bereits entdeckt haben, haben sie dennoch eine Chance. Sie können auf die Mitteilung der Erfahrenen hören und in sich Platz schaffen für die Lösung. Sie können einen Bund mit der großen Schöpferkraft schließen und sich in einer eventuell auftauchenden, ausweglos erscheinenden Situation daran erinnern, dass gerade da die schöpferische Kraft schon am Werk ist. Und dass sie deshalb keine Angst haben müssen.

Eine Intervention dieser Art wird in der heutigen Psychotherapie als „positive Suggestion“ bezeichnet. Aber das hier ist nicht einfach irgendeine positive Suggestion, es ist die einzige Suggestion, die in dieser ausweglosen Lage den die Not wendenden Effekt haben kann. Es ist ja keine eigene Kraft vorhanden, auf die der Mensch seine Hoffnung setzen könnte, daher muss die Lösung von einer anderen Kraft kommen. Indem ein Mensch sich das eingestanden hat, wird er offen für diese andere Kraft, die nicht einfach erfunden ist wie ein Ammenmärchen, sondern die real ist und deren Wirken überall beobachtet werden kann. Nur das Erkennen der Wahrheit von V 2c kann die Wirkung erzielen, die jetzt notwendig ist. Nur das kann trotz der tödlichen Bedrohung die jetzt notwendige innere Ruhe erzeugen, denn nur das hebt den vernichtenden Stress auf, unter den ein Mensch in einer ausweglosen Situation geraten kann. Und so wird es möglich, dass dieser Mensch jetzt einfach nur darauf achtet, wie sich die Lösung gewissermaßen „von selbst“ entwickelt. Ohne etwas tun zu müssen, wird er unmittelbarer Zeuge des Wirkens der schöpferischen Kraft:

Durch sein wiedergefundenes Vertrauen kann der Mensch, der am Abgrund steht, umgeben von Finsternis, es jetzt aushalten, nichts zu tun, als nur diese Entwicklung zu beobachten. In seiner inneren Wahrheit, in der er doch weiß, dass er von Grund auf ein göttliches Wesen ist, kann er zusehen, wie sich durch das Wirken der schöpferischen Kraft die Lösung nach und nach abzeichnet – hier dargestellt in sieben Phasen oder „Tagen“:

 

 

Schritt eins (erster „Tag“): Das Instrument der Unterscheidung

 

Wenn ein Mensch, der vor dem Abgrund steht, umgeben von Finsternis, ehrlich ist und offen für die Lösung, wird er in sich zunächst nur einen Wunsch fühlen: Er möchte den Ausweg sehen, er möchte zunächst einfach nur überhaupt etwas sehen. Und das spricht die schöpferische Kraft in ihm jetzt aus (V 3a): „Und Gott sprach: Es werde Licht!“.

Der Vers ist im Imperfekt formuliert, denn er ist in der archetypischen Zeit gesprochen, die immer schon war und die immer wieder sein wird. Wenn unsere Ausgangssituation in diese Zeit hineinverlegt wird, dann bedeutet das, dass Menschen immer wieder in ausweglose Situationen geraten werden und dass sie in diesen Situationen in sich nur diesen einen Wunsch fühlen werden, nämlich den Wunsch nach Licht. Und wie später im Psalm 91 vom archetypischen Menschen gesagt werden wird, dass Engel ihn tragen, damit sein Fuß sich an keinem Stein stößt (V 12), so ist auch hier die göttliche Kraft schon da und erfüllt des Menschen Wunsch: „Und es wurde Licht!“ (V 3b).

Der schöpferische Geist, dessen konkretisierte Version der Mensch ja ist, möchte, dass der Mensch fähig wird, Dinge unterscheiden zu können. Und ein Mensch, der von der Gegenwart der schöpferischen Kraft weiß, wird diesem Wunsch kein Hindernis entgegen stellen und so wird dieser Mensch fähig, in dem großen Chaos Unterschiede zu sehen.

„Und Gott sah das Licht und dass es gut war“ (V 4a). Die schöpferische Kraft in dem Menschen überprüft die gefundene Lösung sofort, ob sie auch etwas taugt. Und sie stellt fest, dass sie gut ist. Und der Mensch, der nun etwas sehen kann, stellt fest, dass das gut ist.

Und er hält den Prozess, der in ihm eben begonnen hat, in seinem Bewusstsein fest. Und weil er sich doch dessen bewusst ist, dass nicht er es ist, der diesen Unterschied erzeugt hat, sondern die schöpferische Kraft in ihm, heißt es in V 4b: „Und Gott schied zwischen dem Licht und zwischen der Finsternis.“

Und weil beim Menschen das Bewusstmachen sprachlich erfolgt, benennt die schöpferische Kraft im Menschen die beiden Seiten des Unterschieds (V 5a): „Und Gott benannte das Licht nach dem Tag und die Finsternis benannte er nach der Nacht.“

An dieser Stelle liegt die Analogie zwischen innerer und äußerer Welt offen zutage. Das Licht, um das es hier geht ist ganz offenbar nicht das Licht der Sonne oder einer anderen äußeren Lichtquelle, sondern es ist das innere Licht der Einsicht in die Zusammenhänge. Doch wie auch noch in unserem heutigen Sprachgebrauch, dienen die Phänomene der äußeren Welt als Bilder für die Vorgänge in der inneren Welt. Und so benennt unser antiker Autor den Bereich, der im Licht liegt, nach dem Tag und den Bereich, der im Dunklen bleibt, nach der Nacht – und das nicht nur um zwischen Hellem und Dunklem zu unterscheiden, sondern auch um die einzelnen Etappen des Prozesses der Bewusstwerdung einzugrenzen.

Mit dem Erscheinen des Lichts ist die erste Etappe auf dem Weg zur Lösung nämlich abgeschlossen. Dieser Schritt ist genug für den Menschen, der von Finsternis umgeben am Abgrund stand. Die Arbeit der Bewusstmachung, die hier geleistet ist, drückt unser Hymnus deshalb im Bild eines Tagewerks aus, nach dem es eine Ruhepause braucht, die Nacht. Und der Mensch, der bis jetzt nichts tun musste, außer Beobachten, sieht, wie ihm auch die Pause, die er jetzt braucht, geschenkt wird:  „Und es wurde Abend und es wurde Morgen, ein Tag.“

In der Sprache der Psychotherapie würde es heißen, die erste Aufgabe ist erfüllt. Der Patient, der eine Lösung finden wollte, hat zumindest prinzipiell gelernt, Unterschiede sehen.

Die übliche Interpretation dieses Hymnus als Schöpfungsbericht stößt „am ersten Tag“ auf die Schwierigkeit, dass auch den Autoren dieses Hymnus klar war, dass Licht immer von einer Quelle ausgeht, von der Sonne oder von einem Feuer. Dass hier das Licht erscheint, bevor eine solche Quelle erscheint, lässt kaum einen anderen Schluss zu, als dass es eben nicht um ein äußeres Licht geht, sondern um ein inneres Licht, nämlich genau um jenes Licht, das ein Mensch braucht, der sich in einer aussichtslosen Situation vorfindet. Für ihn ist damit dass ihm seine Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen, bewusst wird, die erste Phase des Lösungsprozesses abgeschlossen.

 

 

Schritt zwei (zweiter „Tag“): Zwei Welten: Wo ich bin und wohin ich möchte, Realität und Wunsch

 

Nun kommt der nächste Schritt – aber was kann der nächste logische Schritt sein? Unser Hymnus benennt diesen zweiten Schritt ganz klar:

Zunächst fühlt sich der Mensch der vor dem Abgrund steht, umgeben von Finsternis, wie in einem einzigen Ozean von Chaos, in dem er noch keine Unterschiede erkennen kann. Durch das „Licht“, wird er nun fähig, eine zweite Unterscheidung zu treffen – und tatsächlich ist das erst die erste konkrete Unterscheidung, denn das „Licht“ war ja erst die Fähigkeit zu unterscheiden. Das schlägt sich dann nieder in der Benennung dieser Unterscheidung.

Und wieder ist nicht der Mensch, der etwas tut, sondern es die schöpferische Kraft allein, die diese Unterscheidung trifft. Der Mensch beobachtet nur, was in ihm vorgeht. In V 6a heißt es daher: „Und es sprach Gott: Es werde etwas Festes zwischen den Wassern und scheide Wasser von Wasser.“

Hier wie auch sonst oft in der Bibel ist mit „Wasser“ nicht einfach Wasser gemeint, sondern etwas, das nicht zu fassen ist, etwas, das einem wegrinnt zwischen den Fingern. Das Wasser ist ein Bild für das Chaos. Etwas Festes soll in dem Chaos entstehen, etwas, das einen Teil des Chaos vom anderen trennt. Und wir kennen dieses Feste bereits, das dazu imstande ist: es ist die Unterscheidung selbst, die wir jetzt, wo wir etwas sehen können, treffen können. Es ist aber nicht einfach eine willkürliche Unterscheidung, sondern es ist ein Unterschied, den wir aufgrund des Lichts nun sehen können. Der Unterschied war vorher schon da, aber jetzt können wir ihn sehen. Und es ist der erste Unterschied, den wir sehen können.

Und wieder ist dieser zweite Schritt, den die schöpferische Kraft in dem vom Sturz in den Abgrund bedrohten Menschen macht, ein völlig logischer Schritt. Er führt zur Unterscheidung zwischen „unten“ und „oben“: „Gott machte also dieses Feste und es schied zwischen den Wasser unterhalb des Festen und den Wassern oberhalb des Festen“ (V 7a). Und weil es die schöpferische Kraft selbst ist, die diese Unterscheidung treffen will, tritt sie sofort in Kraft, V 7b: „Und so geschah es.“

Erneut wird jetzt die Unterscheidung im Bewusstsein festgehalten und daher sprachlich benannt. Die Unterscheidung selbst wird von der schöpferischen Kraft jetzt „Himmel“ genannt, V 8a: „Und Gott benannte dieses Feste nach dem Himmel.“

Dem vom Sturz in den Abgrund bedrohten Menschen kommt diese Benennung spontan, denn natürlich kennt er den Himmel und jetzt ist der Zeitpunkt an dem die Frage nach ihm auftaucht.

Ein Mensch, der an diesem Punkt steht, beobachtet, wie alles in ihm auf die Unterscheidung drängt zwischen dem, wo er ist und dem wohin er möchte.

Doch die Benennung wird in seinem Bewusstsein gleich mehrfache Bezüge herstellen: Dem beobachtenden Menschen ist nämlich von Tag eins her bereits klar, dass das, was  zur Lösung führt, das Unterscheiden ist, dass das Unterscheiden gewissermaßen also selbst bereits die Lösung ist, während das Nichtunterscheiden Chaos und Untergang bedeutet. Deshalb empfindet er die Unterscheidung selbst hier schon als „Himmel“ genannt, denn an diesem Punkt fühlt er sich gut. Er weiß, dass er auf dem richtigen Weg ist, er weiß, dass sich der Rest auch noch aufklären wird. Er ist gewissermaßen bereits im Himmel, wo alles gut ist, wo alle Probleme gelöst sind.

Gleichzeitig wird mit dieser Benennung des Festen, das ja zwischen den beiden Hälften des Chaos liegt und diese trennt, ausgesagt, dass nicht nur eine Hälfte dem Himmel angehört, sondern eigentlich das Ganze der Welt.

Dennoch entstehen durch diese Unterscheidung, die als „das Feste“ schlechthin bezeichnet wird, zwei Teile der Welt, ein unterer und ein oberer Teil. Mit dem unteren geht es gleich im nächsten Abschnitt weiter und er stellt sich gewissermaßen als „die Realität“ heraus, sodass der Name „Himmel“ nicht nur auf die Unterscheidung selbst passt, sondern im Besonderen auch noch auf den oberen Bereich des Ganzen, auf den Bereich des Ziels, den Bereich der Erfüllung, der sich zunächst aber nur als Reich der Wünsche offenbart.

Und so erkennt der Mensch mit der Unterscheidung des zweiten „Tages“, dass er gewissermaßen in zwei Welten lebt, in der Welt, in der er sich als am Abgrund stehend erlebt und andererseits gleichzeitig in der Welt, in der seine Träume bereits erfüllt sind. Die zweite Unterscheidung, die die schöpferische Kraft nun bewirkt, ist damit insbesondere die zwischen „Realität“ und „Wunsch“.

Der Patient in der Psychotherapie wird an diesem Punkt lernen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden – eine nicht ganz einfache Sache, die in der Therapie viel Geduld und Kraft erfordert, die aber für den Menschen, der sich als einen Spross der schöpferischen Kraft sehen kann, von selbst geht, weil es die schöpferische Kraft selbst ist, die diese Unterscheidung, dieses absolut Feste, diesen ersten Rettungsanker im Chaos installiert.

Dieses Feste scheidet Wasser von Wasser, heißt es. Trotz der bereits erfolgten ersten klaren Unterscheidung herrscht also in den beiden nun unterschiedenen Bereichen noch völliges Chaos. Weder in der Realität ist etwas klar, noch ist klar, wohin die Reise gehen soll. Sowohl der Bereich der Wirklichkeit als auch der Bereich der Wünsche sind noch völlig unerkennbar. Und dennoch ist mit der ersten konkreten Unterscheidung ein gewaltiger Schritt gemacht. Die zweite Phase auf dem Weg zur Lösung ist erfolgreich abgeschlossen.

Nun braucht der Mensch wieder eine Zwischenphase der Ruhe und Erholung. „Und es war Abend und es war Morgen, zweiter Tag“ (V 8b).

 

 

 

Schritt drei (dritter „Tag“): Nicht alles ist Chaos – und alles Lebensnotwendige ist schon da.

 

Am dritten Tag richtet sich die unterscheidende Aufmerksamkeit auf die untere Hälfte des Chaos, auf die Realität. Das ist der als nächstes anstehende logische Schritt. Wieder ist es für den Menschen, der sich als eine Erscheinung der schöpferischen Kraft weiß, die schöpferische Kraft selbst, die alles tut. Um es mit dem chinesischen Weisen Lao-tse zu sagen: „Der Mensch verweilt beim Geschäft des Nicht-Tuns“ (Kapitel 2, Vers 7). Er sieht es nur geschehen. Er beobachtet nur.

(3.1): Und er sieht, wie er dadurch, dass sich seine Aufmerksamkeit jetzt spontan dem Boden zuwendet, auf dem er steht, erkennt, dass nicht alles Chaos ist. Und mit dieser Einsicht weicht das Chaos zurück (3.1.1). „Land“ kommt in Sicht (3.1.2). Dass sich das von selbst in dieser Weise entwickelt, macht deutlich, dass das Leben in der Welt von Anfang an so eingerichtet ist, dass alles von selbst geht. Der Mensch muss nichts „tun“, er muss nur folgen. So heißt es nun:

 „Nun sprach Gott: Gesammelt werden die Wasser unter den Himmeln an einem Ort und das Trockene werde sichtbar gemacht. So geschah es“  (V 9a).

Schon bevor sich die unterscheidende Aufmerksamkeit auf die Realität richtete, war dort  bereits „das Trockene“, aber es war noch nicht als solches erkennbar, denn es war noch nicht unterschieden von den Wassern des Chaos, daher gehörte es selbst noch dem Chaos an. Durch die Unterscheidung aber wird es zunächst erkennbar und dann in einem weiteren Schritt auch verfügbar.

Zunächst aber wird die neue Unterscheidungstiefe im Bewusstsein gesichert durch seine Benennung. „Da benannte Gott das Trockene nach der Erde und die Ansammlung der Wasser benannte er nach dem Meer“ (V 10a).

Und wieder prüft die schöpferische Kraft das Ergebnis dieser neuen Unterscheidung. Es fühlt sich gut an. „Und Gott sah, dass es gut war“ (V 10b).

 

Die Benennung macht auch hier wieder in besonderer Weise klar, dass der Hymnus eine Analogie beschreibt: Stufen eines geistigen Prozesses werden nach Erscheinungen der äußeren Wirklichkeit benannt. Es geht also nicht einfach um eine Beschreibung der Entstehung dieser Erscheinungen der äußeren Wirklichkeit. Dennoch, weil die Analogie mit der äußeren Wirklichkeit jetzt detaillierter wird, erweckt unser Hymnus nun zunehmend den Eindruck von einem Bericht über die Erschaffung der äußerlichen Wirklichkeit, während die äußerliche Wirklichkeit auch weiterhin nur das Anschauungsmaterial liefert für die Beschreibung des geistigen Prozesses, der sich in einem Menschen ereignet, der durch zunehmende Unterscheidung zunehmend Kontrolle erlangt über sein Leben.

Um die Hymnus gründlich zu verstehen, muss der existentielle Teil der Analogie in den Vordergrund treten. Dann wird sogar erkennbar, dass der Hymnus archetypisch beschreibt, welche Abläufe sich in jedem schöpferischen Prozess wiederholen. Dabei entsteht eine Art Grundschema des Zustandekommens evolutionärer Sprünge bzw. der grundlegenden Etappen in jedem therapeutischen Prozess.

 

Nachdem Land in Sicht gekommen ist, hat der dritte „Tag“ nun – wie später der sechste – einen zweiten Abschnitt (3.2):

Indem die Aufmerksamkeit der schöpferischen Kraft sich auf den Boden der Tatsachen richtet, zeigt sich, dass dieser nicht nur festen Halt bietet, sondern dass darauf alles zu finden ist, was es zum Leben braucht. Das Land ist fruchtbar und was daraus hervorwächst, kann vielfältig genutzt werden, auch dazu, das Land noch fruchtbarer zu machen:

„Weiter sprach Gott: Es sprieße die Erde Sprossen. Samender Pflanzenwuchs, Samen, Holz, Frucht, die wieder Frucht macht nach der Art, die der Same ihr gibt, wenn er aus der Erde wächst. Und so geschah es. Als die Erde Sprossen hervorbrachte, Samen samenden Pflanzenwuchs und Frucht machendes Holz mit dem Samen in ihm, je nach seiner Art, sah Gott, dass es gut war“ (V 11f.).

Es ist auffällig, wie detailliert gerade die Brauchbarkeit all dessen beschrieben wird, was durch die neue Unterscheidung zwischen beherrschter Wirklichkeit und dem verbleibenden Chaos erkennbar wird.

In der Analogie bleibt auch noch klar – was vielen heutigen Interpreten unseres Hymnus entgeht, und was sie deshalb nur noch ideologisch als einen Missbrauch verstehen – dass „das Herrschen“, von dem unser Hymnus gleich ausdrücklich sprechen wird, eben nicht Missbrauch, sondern einfach Lebenstüchtigkeit bedeutet im Gegensatz zu dem zu Anfang drohenden Versinken im Chaos.

Auf dieser Etappe der „Therapie“ gewinnt der „Patient“ durch immer weiter vertiefte Unterscheidung der nutzbaren Gegebenheiten auf dem eigenen Terrain zunehmende Kontrolle über das eigene Leben: Sprossen, Frucht, Samen, Holz, Pflanzbarkeit unterschiedlicher Arten sind einfach Symbole für die Ressourcen, die unser Patient jetzt zu sehen beginnt. Und wieder geht das alles von selbst. Die schöpferische Kraft hat die Welt von Anfang an so eingerichtet, dass „das Land“ von selbst alles für seine Bewohner Nötige hervorbringt, dass Ressourcen also immer vorhanden sind. Sie müssen zunächst gesehen werden, dann brauchen sie nur noch genutzt werden.

Die Analogien aus der Landwirtschaft lassen sich natürlich auf jedes Gebiet übertragen, in dem der Patient lebt, leidet und Kontrolle zu gewinnen sucht. Der Gesundungsprozess schreitet mit zunehmender Unterscheidung fort. Deshalb kann die schöpferische Kraft die Ergebnisse seiner Prüfung an diesem „Tag“ nun gleich ein zweites Mal als „gut“ bewerten.

 

 

 

Schritt vier (vierter „Tag“): Das Licht des Himmels

 

Nachdem die unterscheidende Aufmerksamkeit zunächst nach unten auf die Realität gerichtet war, richtet sie sich nun nach oben, auf den „Himmel“, denn sobald klar ist, was alles zur Verfügung steht, braucht es Orientierung, wann und wozu das alles verwendet werden soll. Das Reich der Wünsche ist gefragt.

Indem wir unsere Unterscheidungsfähigkeit jetzt auf das Reich der Wünsche lenken, finden wir auch dort Unterschiede von erstaunlicher Kraft und Regelmäßigkeit. Wie in dem äußeren Himmel Sonne, Mond und Sterne regieren, so lenken uns von innen unsere Bedürfnisse – besonders das nach „selbst wer sein“, das in der Analogie der Sonne entspricht: Selbstverwirklichung, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, etwas erreichen und wer sein in dieser Welt – für den Menschen, der sich als Ausdruck der schöpferischen Kraft weiß, ist sein Licht natürlich abgeleitet von dem ursprünglichen Licht dieser Kraft, ohne das er nichts wäre, während er im Bund mit ihr eine wirkliche Sonne sein kann, die die Menschen wärmt und erleuchtet.

Neben diesem ersten gibt es das zweite große Bedürfnis, nämlich das nach der Gemeinschaft – die uns mondgleich spiegelt, indem sie uns rückmeldet, wie wir ankommen. Nur wenn unser Licht reflektiert wird, können wir uns entfalten und einen Partner / eine Partnerin finden, um das Leben weiterzugeben.

Und darüberhinaus gibt es in uns noch das Bedürfnis uns zu orientieren. Und dieses Bedürfnis zeigt uns das Licht der anderen, aus denen ja ebenso die schöpferische Kraft strahlt. Und einige von ihnen werden für uns zu Vorbildern. Sie sind unsere „Stars“, die uns „vom Himmel her“ leuchten und an denen wir uns großräumig orientieren können, wie in der äußeren Welt an den Sternen, um den besten Kurs für unser eigenes Leben zu finden.

Aus den unterschiedlichen Rhythmen in der ewigen Wiederkehr dieser großen menschlichen Bedürfnisse ergibt sich, wann es in unserem Leben Zeit ist für was.

Der Patient lernt in dieser vierten Phase die inneren Anziehungen und Abstoßungen zu unterscheiden, wie auch den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung. Auf diese Weise erkennt er seine Bedürfnisse und die der anderen und er lernt, sie aufeinander abzustimmen.

Und wieder ist dieses Lernen bei dem Menschen, der sich als Spross der schöpferischen Kraft weiß, weniger ein Tun als ein Beobachten, denn, was tut, ist auch auf dieser vierten Etappe zunehmender Unterscheidung die schöpferische Kraft selbst. Deshalb ist es wieder Gott, der spricht:

„Gott sprach: Leuchten seien am Festen der Himmel, um zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Und sie sollen zu Zeichen werden  und zu Zeiten und zu Tagen und Jahren. Und sie sollen zu Leuchten werden am Festen der Himmel, um auf die Erde zu leuchten. Und so geschah es. Dann machte Gott die zwei Leuchten, die großen, die große Leuchte, um den Tag zu beherrschen, die kleine Leuchte, um die Nacht zu beherrschen, und die Sterne.

Und Gott setzte sie an das Feste der Himmel, um auf die Erde zu leuchten und den Tag zu beherrschen und die Nacht und zu scheiden zwischen dem Licht und der Finsternis.

Und Gott sah, dass es gut war.

Und es war Abend und es war Morgen, vierter Tag.“ (V 14-19).

Und da diese Leuchten auf das Feste der Himmel gesetzt sind, also zwischen die Realität und das Reich der Wünsche, leuchten sie in beide Bereiche hinein und beherrschen mehr als alles sonst nicht nur den Tag und die Nacht, sondern unser ganze Sein.

Unsere Bedürfnisse selbst – und nicht äußerliche Regeln – bilden demnach das Licht des Himmels in uns – etwas, das manchen vielleicht erst einleuchtet, wenn sie bedenken, dass es nicht das Liebesgebot war, das den Samariter dazu gebracht hat, zu helfen, sondern sein natürliches Mitgefühl. Das bedeutet, dass der Mensch, der sich als einen Spross der schöpferischen Kraft erkennt, in sich selbst alles findet, was er zur Orientierung braucht, einschließlich seines Bedürfnisses nach Orientierung an anderen.

In den östlichen Religionen wird diese grundsätzliche Vollkommenheit, die hier einige Verse später als „das Paradies“ bezeichnet werden wird, als Zustand der „Erleuchtung“ beschrieben, der ebenso nicht durch Tun erreicht wird, sondern durch Meditation, also durch Beobachten dessen, was ist. Und wie in unserem Hymnus das Chaos überwunden wird, so werden dort die Illusionen überwunden. Und am Ende herrscht geistige Klarheit und Kontrolle über das Leben. Doch noch sind wir nicht am Ende dieses Prozesses.

 

 

 

Schritt fünf (fünfter „Tag“): Die unbewussten Triebkräfte

 

In der jetzt folgenden Etappe möchten wir mit unserer neu gewonnenen „Unterscheidung der Zeiten“ etwas anfangen. Unsere unterscheidende Aufmerksamkeit richtet sich daher wieder auf den Boden der Tatsachen, bzw. auf das in 3.1.1 verbliebene Chaos. Wir möchten dort etwas Brauchbares herausfischen. Auch das wird möglich, indem wir genau hinschauen; da sehen wir:

„Dann sprach Gott: Wimmeln lassen die Wasser ein Gewimmel lebender Wesen“ (V 20a).

Was zuvor als ein Chaos erschien, erweist sich bei näherem Hinsehen als voll von lebendigen Wesen. So hat die schöpferische Kraft den Boden für uns vorbereit – längst bevor wir da waren.

 

Zum verbliebenen Chaos im Bereich unseres Bodens der Tatsachen gehört durch unsere zunehmende Unterscheidung mittlerweile auch die Luft, und wir sehen, selbst die ist belebt mit fliegenden Wesen:

„Und Gefiedertes soll über der Erde fliegen, auf der Oberfläche des Festen der Himmel“ (V 20b).

Der Zwischenraum zwischen Himmel und Erde ist nicht einfach nur Luft, sondern im Bereich unserer inneren Wirklichkeit ist es die Oberfläche „des Festen der Himmel“, also die Oberfläche unserer Unterscheidungen selbst. Und was sich in dem Zwischenraum bewegt, sind nicht einfach Vögel, sondern es sind auch die vielfältigen Spannungen zwischen Wünschen und Realität, die oft wie die flüchtigen Bewegungen von Vögeln erscheinen.

 

Und dann geht es in die Tiefe, und die ist belebt von teils gewaltigen Tieren, die wie Ungeheuer erscheinen, wie unsere eigene innere Tiefe geprägt ist von gewaltigen und oft unheimlichen Trieben.

„Und es schuf Gott die Meeresungeheuer, die großen, und alle die schwimmenden lebenden Wesen, von denen die Gewässer wimmeln je nach ihrer Art, und jeden Vogel mit Schwingen je nach seiner Art.

Und Gott sah, dass es gut war.

Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Wasser in den Meeren. Und das Gefiederte soll sich mehren über der Erde!

Und es war Abend und es war Morgen, fünfter Tag.“ (V 21-23).

Nun kommt ein neues Element hinzu: Gott segnet diese Wesen, die sowohl eine Realität für sich, als auch ein Symbol für unsere eigene Natur sind: von den tiefsten Tiefen zu den höchsten Höhen reicht der Mensch – nicht erst durch die heutige Technik, sondern schon von Anfang an.

Der Mensch, der vor dem Abgrund stand, lernt in dieser Phase das gesamte Spektrum der Wirklichkeit als  den Raum seiner Möglichkeiten begreifen. Wenn er sich als Spross der schöpferischen Kraft erkennt, verliert sich aber nicht in diesem gewaltigen Raum, denn durch Unterscheiden bewältigt er ihn und er wird dennoch nicht zum Ausbeuter, sondern zum Hüter, denn wie Gott selbst, segnet er die Schöpfung.

In der Psychotherapie würde die fünfte Etappe als die Etappe der Ergründung des Unbewussten gesehen. Während es in Etappe vier um die Ideale des Menschen ging, geht es nun um seine Triebkräfte, die gewissermaßen wie die Pflanzen aus der Erde sprossen – und doch in mancher Hinsicht ungreifbar bleiben, wie Wasser oder Luft. Durch seine Unterscheidung dieser Kräfte aber gewinnt er Kontrolle auch über seine Triebe. So werden die Heiligen und die Erleuchteten immer als Meister ihrer selbst beschrieben.

 

 

Schritt sechs (sechster „Tag“): Was ist der Mensch?

 

6.1: Im ersten Teil des sechsten „Tages“ untersucht unser Patient „das Land“, das in Phase 3.1.2 erschienen ist und das in Phase 3.2 schon als fruchtbar erkannt worden ist, mit neuen Unterscheidungen. Und da sieht er, dass er nicht allein ist auf der Welt. Vielmehr hat „das Land“, also seine Lebensgrundlage, bereits alle Arten von lebendigen Wesen hervorgebracht, die nun in Gruppierungen aufgezählt werden, die rein auf Nutzen ausgerichtet ist – in der damaligen Sicht der Viehzüchter und Jäger:

„Und Gott sprach: Die Erde bringe lebende Wesen hervor, je nach ihrer Art: Vieh und Kriechgetier und Wild der Erde je nach seiner Art. Und so geschah es.

Als Gott das Wild der Erde machte, je nach seiner Art, und das Vieh, je nach seiner Art, und alles Kriechgetier des Erdbodens, je nach seiner Art, da sah Gott, dass es gut war.“ (V 24f.)

Wenn unser „Patient“ nun ein Spitzenmanager wäre, den wir zu coachen hätten, dann würde er seine unterscheidende Aufmerksamkeit jetzt auf die Ressourcen richten, mit denen er arbeitet. Da würde er bemerken, dass alles, was er braucht, bereits da ist – und natürlich auch jede Menge von dem, was er nicht brauchen kann. Und er würde alles nach seiner Art unterscheiden, je nachdem wie brauchbar oder unbrauchbar es für ihn ist.*

Unser Patient wird an dieser Stelle daher dankbar sein dafür, dass alles, was er braucht, bereits da ist.

[* Einen weiteren Gesichtspunkt könnte die Zen-Geschichte „Vom Ochsen und seinem Hirten“ aus dem fernen China eröffnen: Da sucht ein Hirte seinen verlorenen Ochsen und findet schließlich seine Spur, dann findet er ihn selbst, fängt ihn, zähmt ihn, reitet auf ihm heim – und vergisst ihn. Die alten Zen-Meister deuten die Geschichte als einen Weg zunehmender Bewusstheit und zunehmender Kontrolle über das Leben, bis seine Errungenschaften keine Frage mehr sind und er sich unbekümmert in das lebendige Treiben am Markt mischen kann.

An dem Punkt, an dem wir in unserem Hymnus stehen, hat der zunächst verzweifelte Mensch die Kontrolle über die im Leben wirkenden Kräfte erreicht. Wie der Hirte in der Geschichte ist er damit bei sich selbst angelangt.]

 

6.2.1: Um aber bei den Bildern unseres Hymnus zu bleiben, die große Schöpferkraft hat aus der Erde lebende Wesen unterschiedlicher Art hervorgebracht. Und dem Menschen entgeht die Ähnlichkeit der anderen Geschöpfe mit sich selbst sicherlich nicht. Deshalb wird er nun sich und seinen Schöpfer fragen, was denn nun der Unterschied ist zwischen diesen Wesen und ihm selbst.

Er hat mittlerweile das Chaos durch Bewusstheit ersetzt. Deshalb ist seine Frage keine naive Frage. Auch der Adressat seiner Frage ist kein Lückenbüßer mehr für das Unbekannte, denn an jeder Schnittstelle seiner Unterscheidungen hat der Mensch die schöpferische Kraft am Werk gesehen. Um die Antwort auf seine Frage zu bekommen, weicht der Mensch nicht von seinem bisherigen Kurs ab: Er beobachtet sich selbst. Im Verlauf der Etappen seiner Entwicklung hat er in sich unterschiedliche Stimmen entdeckt, darunter eine, die ich hier als seine „innere Wahrheit“ bezeichnen möchte. Diese Stimme hat er von Anfang an vernommen – dank des Rates, den ein Weiser ihm zu Beginn gegeben hat, nämlich darauf zu vertrauen, dass eine andere Kraft als die seine sein Problem lösen wird, wenn er diese Kraft nur wirken lässt und ihr Wirken nur beobachtet. In diesem beobachtenden Wahrnehmen ist er von Anfang an mit seiner inneren Wahrheit verbunden. So beobachtet er nun wieder, wie die Frage spontan in ihm hochsteigt, wer er eigentlich ist. Und er beobachtet die neuen Unterscheidungen, die sich jetzt in seiner inneren Wahrheit abbilden. Die Kraft, die ihn hervorgebracht hat, zeigt ihm die Unterscheidungen, nach denen er gefragt hat, und er sieht sie genau so, wie unser Hymnus es hier darstellt:

„Dann sprach Gott: Wir wollen einen Menschen machen nach unserem Bild, wie eine Kopie von uns – und sie sollen herrschen  über die Fischbrut des Meeres und über das Gefiederte der Himmel und über das Vieh, und überall die Erde, und über das Kriechgetier, das auf der Erde kriecht.

Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bild, als Ebenbild Gottes erschuf er ihn.“ (V 26-27a).

Gerade durch seine Fähigkeit zu unterscheiden, unterscheidet sich der Mensch von allen Tieren. So ähnlich ihm manche von ihnen auch sein mögen, was selbst die höchstentwickelten Tiere nicht können, ist Begriffe bilden, diese in Kategorien einordnen, daraus eine Sprache formen und mit Hilfe dieser Sprache sich selbst erkennen.

Dadurch ist der Mensch den Tieren überlegen. Deshalb ist er der natürliche Herrscher über die Erde und alle ihre Bewohner. Für heutige Leser ist es wichtig hier hinzuzufügen, dass das Herrschen in der Zeit, als dieser Text verfasst wurde nicht bloß Verfügungsgewalt bedeutet, sondern in gleicher Weise auch Verantwortung.

Was dieser Text am meisten hervorhebt, ist die Ähnlichkeit des Menschen mit dem Urheber der Schöpfung. An diesem Punkt seiner persönlichen Entwicklung unterscheidet der Mensch, was alles zu ihm gehört: das Mineralische (die Erde), das Vegetative (das Sprießende), das Animalische (die Tiere) und dann das, was ihm all diese Unterscheidungen ermöglicht. Und das erkennt er als identisch mit der Kraft, die ihn hervorgebracht hat.

Ddamit ist der Mensch nun in direktem Kontakt mit seinem innersten Wesen und das sagt ihm, dass er seinem Wesen nach göttlich ist – wie auch alles sonst am Menschen aus Gottes Wesen hervorgegangen ist. Ja, an diesem Punkt kann der Mensch sogar noch eine weitere Ähnlichkeit sehen, nämlich dass er durch sein Bemühen selbst zu einem wird, der etwas aus dem Nichts erschafft.

Wenn unser Patient an diesem Punkt angelangt ist, ist er kein Patient mehr, dann ist er gesund. Er ist nicht mehr fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt, er ist der Herr seines Lebens. Die Welt und ihre Schätze stehen jetzt zu seiner Verfügung – und er ist sich seiner Verantwortung bewusst. Vor allem aber ist unserem vormaligen Patienten jetzt bewusst, dass er ein Spross der schöpferischen Kraft ist. Daher übernimmt er jetzt die ihm zukommende Aufgabe in dem großen schöpferischen Prozess, und das kann nur eine Aufgabe sein, die das große Ganze im Bereich seiner persönlichen Möglichkeiten auf schöpferische Weise voranbringt.

 

6.2.2: Nun, da der Mensch sein Wesen erkannt hat, kann er sich dem Leben widmen – und da begegnet ihm sofort die nächste Unterscheidung:

„Männlich [wörtlich: er-innernd] und weiblich [wörtlich: durchdrungen] schuf er sie.“ (V 27b).

An diesem Punkt fragt sich der Mensch: Wozu gibt es Männer und Frauen? Und Gott antwortet ihm: damit die Menschen wachsen und sich vermehren können. Aber die etymologischen Bedeutungen der Geschlechtsbezeichnungen sagen noch mehr. Sie bringen so etwas wie eine Wesenseinsicht in den Unterschied zwischen Mann und Frau: Der Mann ist in seinem Wesen „er-innernd“, was nicht nur bedeutet, dass er körperlich ins Innere eindringt, sondern dass er jegliches Geheimnis ergründen will.

Die Frau dagegen ist bereits durchdrungen. Sie hat bereits alles in sich. Sie ist für den Mann daher das erste Geheimnis, das er ergründen will.

Genau dieser Unterschied ist es, der die Geschlechter für immer aneinander bindet und der zum Anlass dafür wird, dass sie sich verbünden und dass aus diesem Bund die weiteren Sprosse der schöpferischen Kraft hervorgehen.

 

Deshalb sind die Beiden bereits in besonderer Weise gesegnet:

6.2.3: „Und Gott segnete sie. Und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und unterwerft und herrscht über die Fischbrut des Meeres und über das Gefiederte der Himmel und über alles Getier, das auf der Erde kriecht!

Dann sprach Gott: Seht, ich gebe euch allen Pflanzenwuchs, der auf der Oberfläche des gesamten Erdbodens Samen samt und jeden Baum auf ihm, der Samen samt.

Euch und allem Getier der Erde soll er zur Speise werden und jedem Vogel der Himmel und allem, was auf dem Erdboden kriecht und in sich ein lebendes Wesen hat, gebe ich jeglichen grünen Pflanzenwuchs zur Speise.

Und so geschah es.

Da besah Gott alles, was er gemacht hatte, und sieh, es war sehr gut.

Und es war Abend und es war Morgen, der sechste Tag.“ (V 28-31).

An diesem Punkt in seiner persönlichen Entwicklung sieht der Mensch, der sich als Spross der schöpferischen Kraft weiß, dass ihm alles überantwortet ist. Niemand sonst hat die Kontrolle als nur er. Er ist jetzt der auf Erden erschienene Gott. Auf ihn kommt es an. Er kann nicht darauf warten, dass andere es schon machen werden. Er selbst muss es tun. Er trägt die Verantwortung für alles. – Und wenn ich hier „er“ sage, meine ich natürlich Sie, den Leser dieser Zeilen. – Und er muss in jedem Moment vor seinem Schöpfer, der ja sein innerstes Wesen ist, Rechenschaft ablegen. Er kann es sich nicht leisten, in seine frühere Unbewusstheit zurückzufallen und andere bestimmen zu lassen.

Und dennoch ist er nichts Besseres, sondern er steht in einer Reihe mit dem Getier der Erde. Und er muss Gott dafür danken, dass alles zum Leben Notwendige bereits da ist, dass ihm – gemeinsam mit dem Getier – der Pflanzenwuchs zur Nahrung gegeben ist, auch wenn ihm die Fähigkeit gegeben worden ist, in besonderer Weise über die Pflanzen zu verfügen, weil sein Unterscheidungsvermögen es ihm ermöglicht, zu säen und zu ernten, also seinen Lebensunterhalt zu planen und kreativ zu gestalten.

Und wozu hat der Mensch die göttlichen Eigenschaften des Unterscheidens und der Kreativität? Damit er die Erde gut verwalten kann.

 

 

 

Schritt sieben (siebter „Tag“): Die Perspektive Gottes einnehmen

 

Damit sie aber die Stelle Gottes auf Erden wirklich einnehmen können, um die Erde gut zu verwalten, damit sie nicht zurückfallen in  frühere, unbewusste und fremdbestimmte Phasen, müssen sie sich immer wieder auf ihr Wesen besinnen.

Diese Besinnung beginnt mit der dankbaren Feststellung, dass nun alles vollendet ist:

„So waren die Himmel und die Erde vollendet und all ihr Heer.

Und am siebten Tag hatte Gott sein Werk, das er gemacht hatte, vollendet.

Und Gott er feierte an dem siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte.

Und Gott segnete den siebten Tag und er heiligte ihn, ja an ihm feierte er sein Werk, das er durch Arbeit geschaffen hatte.

Dies ist die Entstehungsgeschichte der Himmel und der Erde bei ihrem Geschaffenwerden an dem Tag, an dem JAHWE, Gott, sie gemacht.“ (Gen 2, 1-4a).

Nach getaner Arbeit sollen die Menschen ihre Arbeit betrachten und sich über ihre Kreativität freuen. Dieser Freude sollen sie einen Tag der Woche widmen.

An diesem Tag sollen sie ihr Werk und das Werk der gesamten Schöpfung betrachten und beides zueinander in Beziehung setzen. Und das geht nur, indem die Menschen die Welt und ihr eigenes Tun aus der Perspektive Gottes betrachten. Und nur so können sie ihrer Verantwortung sich selbst und der Welt gegenüber gerecht werden.

Doch indem sie das tun, dürfen sie die Welt als Paradies erleben und genießen.

 

 

 

Schritt acht (Kapitel zwei und drei): Entfremdung und Erlösungsbedürftigkeit

 

Aber es wäre nicht die Welt, wenn alles so bliebe, wie es einmal war.

Unterscheiden birgt auch Gefahr. Indem die Menschen ihre Unterscheidungen weiterführten, begannen sie zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden. Ihre innere Wahrheit hatte sie davor gewarnt, aber ihre Neugier hatte gesiegt und sie damit in ein Verhängnis gestürzt, denn natürlicherweise wollten sie von diesem Moment an nur noch das Gute; das Schlechte suchten sie auszuschließen, aber das erweis sich als nicht machbar. Weil diese neue Unterscheidung schließlich aber ihr Bewusstsein dominierte, fühlten sie sich zunehmend schlecht, so schlecht, dass sie schließlich ihren göttlichen Ursprung und ihr göttliches Wesen vergaßen und manche sich gar nur noch als ein Stück Dreck begreifen konnten.

Durch ihre Selektivität hatten sie sich vom Ganzen separiert und sich damit sich selbst entfremdet.

Und damit hatten sie das Paradies verloren.

Und damit brauchten sie Erlösung – die natürlich nur darin bestehen konnte, sich an all das wieder zu erinnern, was wir eben gehört haben:

Die Erlösung beginnt damit, dass der erlösungsbedürftige Mensch sich ehrlich eingesteht, dass er vor einem Abgrund steht, umgeben von Finsternis – und dass er sich von einem weisen Menschen sagen lässt, dass Gottes Geist bereits über dem Chaos schwingt.

 

Das vor dem Abgrund Stehen von Gen 1,2 muss nicht etwas Lebensbedrohliches bedeuten. Diese Empfindung kann auch in kleinen Alltagssituationen auftreten, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Immer dann nämlich verdunkelt sich unsere Welt und, wenn wir ehrlich sind, fühlen wir uns dann zumindest für einen Augenblick wie vor einem Abgrund. Das ist der Moment von Gen 1,2. Obwohl wir diese Situationen auch ohne rettenden Einfall überstehen, bekommt unser Selbstbild dann doch jedesmal eine kleine Delle und diese Dellen summieren sich mit der Zeit, unter Umständen so weit, dass ein Mensch sich schließlich als kaputt erlebt und den Glauben an sich und das Leben verliert.

 

Genesis eins zeigt einen Ausweg. Dafür ist unser Hymnus gedacht. Er beschreibt den Weg von der Dunkelheit ins Licht – der aber nur Wirklichkeit werden kann, wenn wir im entscheidenden Augenblick inne halten und diesen Weg bewusst wählen.

 

Zusammenfassung:

0. Der Hymnus beginnt mit „am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Am Anfang ist also alles schon da. Aber da sind Menschen, die sich in der Situation befinden, die Vers zwei beschreibt, die ihr Leben im Moment nicht im Griff haben, die es als „wüst und chaotisch“ empfinden, die sich vor einem Abgrund sehen, umgeben von Finsternis.

Für sie ist der Hymnus geschrieben. Ihnen wird gesagt: Hab keine Angst! Der schöpferische Geist ist bereits da; er schwingt schon über dem Chaos; er löst das Problem. Der Mensch muss nichts tun, nur beobachten, was in ihm und um ihn herum vorgeht.

Dann folgen die sieben Schritte der Lösung. Es sind Schritte der Unterscheidung:

1. Ein Mensch in Finsternis vor dem Abgrund fühlt, wie alles in ihm nach „Licht!“ schreit, nach der Fähigkeit, etwas unterscheiden zu können.

2. Die erste Unterscheidung, die er trifft, ist die zwischen der Situation, in der er sich befindet und dem wo er eigentlich hin möchte, also zwischen der Realität und dem Reich der Wünsche, dem Himmel.

3.1 Als nächstes richtet er seinen Blick auf die Realität. Er stellt fest, er ist noch nicht abgestürzt, er lebt noch, er hat Boden unter den Füßen: „Land“ kommt in Sicht.

3.2 Indem er genauer hinschaut, sieht er, dass sich ihm bereits Möglichkeiten bieten; Ideen tauchen auf; „es sprießt“ schon.

4. Als nächstes richtet er seinen Blick auf das Reich der Wünsche, auf seine Ideale. Die Analogie in der äußeren Welt sind Sonne, Mond und Sterne. In der inneren Welt ist da zunächst der Mensch selbst, eine kleine Sonne im Universum, von der Jesus sagt: Du bist das Licht der Welt. Die Funktion des Mondes erfüllen die anderen, die einen Menschen widerspiegeln und ihm zeigen, wie er ankommt. Die Funktion der Sterne erfüllen wieder die anderen, die ja selbst kleine Sonnen sind und als „Stars“ Vorbildfunktion erfüllen.

5. Nun folgt der Blick auf das verbliebene Chaos. In der äußeren Welt sind das das Meer und die Luft mit ihren Lebewesen und Monstern. In der inneren Welt ist das das Unbewusste mit den leichten Freuden und den dunklen Gefahren der Triebwelt.

6.1 Bringt einen neuen unterscheidenden Blick auf die Realität. In der äußeren Welt können da drei Sorten von Tieren unterschieden werden: Vieh, Gewürm und Wild. Diesen entsprechen in der inneren Welt Bildung, unnütze Ablenkungen und zufällige Chancen.

6.2 Nun blickt der Mensch auf sich selbst. Der äußeren Welt nach ist er eine Art Tier. Der inneren Welt nach aber ist er eine Erscheinungsform der schöpferischen Kraft mit Unterscheidungsfähigkeit und der Fähigkeit, etwas aus dem Nichts zu erschaffen.

7. Im siebten Schritt blickt der Mensch zurück auf seinen Weg. Alles ist nun wunderbar. Er kann es feiern, es genießen. Er kann die Welt aus der Perspektive Gottes betrachten und sehen, dass er diese Perspektive braucht, um im Paradies leben zu dürfen.

8. Darauf folgt in der Bibel die Beschreibung von Paradies und Sündenfall. Der Sündenfall wird der Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“ zugeschrieben. Damit nämlich hören die Menschen auf, zu akzeptieren was ist. Sie wollen nur noch das Gute. Das aber ist nicht möglich, daher haben sie damit das Paradies verloren – und es beginnt wieder mit Finsternis und Abgrund, wie oben.

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